Herkömmliche hydraulische Bremssysteme haben sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts nur wenig verändert. Technisch verbessert wurden sie durch den Umstieg von der Trommelbremse auf die Scheibenbremse und durch die Einführung der Antiblockiersysteme (ABS) und Elektronischen Stabilitätskontrolle (ESP). Zu den neueren Entwicklungen, die Großserien-Reife erlangt haben, zählen die Rekuperationsbremse und der Notbremsassistent (AEB). Diese Systeme wurden in der Hauptsache eingeführt, damit das Fahren sicherer wird. Warum sollte man also an diesem Fundament rütteln?
Die Option, nicht länger konventionelle mechanische Betätigungssysteme, sondern elektronisch gesteuerte Steuersysteme einzusetzen, wurde zunächst in der Luft- und Raumfahrtindustrie im Rahmen der Fly-by-Wire-Technologie untersucht. Die Steuersysteme für die Lenkung, den Schubregler und die Bremsen wurden vollständig auf Elektrik umgestellt, sodass keine mechanischen Komponenten wie Kabel und Gestänge mehr zum Einsatz kamen. Die Flugzeugtechniker stellten fest, dass sich durch den Wegfall dieser viel Platz beanspruchenden mechanischen Komponenten und den Einsatz elektronischer Systeme die Zuverlässigkeit im Betrieb deutlich erhöhte und kompaktere Bauformen möglich wurden. Bisher hat die Automobilindustrie diese Neuerung elektronisch gesteuerter Systeme nur in Form der Throttle-by-Wire-Technologie übernommen.
In der Automobilindustrie gibt es drei Arten von Brake-by-Wire-Lösungen, die bei der Weiterentwicklung von Bremssystemen eine Rolle spielen: die elektrohydraulische Lösung, die vollelektrische Lösung und eine Kombination aus beidem. Beim elektrohydraulischen System braucht es keinen Bremskraftverstärker mehr. Das System arbeitet mit Sensoren und Stellgliedern, die den Druck messen, der vom Fahrer auf das Bremspedal ausgeübt wird. Diese Kraft wird vom Hauptbremszylinder über die Hydraulikflüssigkeit und Nehmerzylinder auf alle Bremsen übertragen. Durch Steuereinheiten und leistungsstarke Stellglieder kann der auf die Bremsen ausgeübte Druck viel höher ausfallen als bei konventionellen hydraulischen Bremssystemen (2000 psi gegenüber 800 psi). Diese Technologie wurde in einigen Serienfahrzeugen von Mercedes Benz im Rahmen des Sensotronic Brake Control (SBC) genannten Systems verwendet. SBC war jedoch nur ein Episode: Es wurde nur 4 Jahre für Massenmarkt-Fahrzeuge des Herstellers gefertigt, z. B. für die E-Klasse (211) 2002-06. Das lag am System, das bei Ausfall der SBC zum Einsatz kam (längerer Bremsweg und höherer Bremspedaldruck ohne Unterstützung eines Bremskraftverstärkers), und der Tatsache, dass die elektrohydraulische Steuereinheit ein teures und wartungsintensives Bauteil war (Austausch nach einer definierten Anzahl Bremsvorgänge). Allein das Bauteil kostete schon nahezu 1000 GBP!
Bei der zweiten Lösung handelt es sich um ein vollelektrisches Bremssystem, bei dem alle hydraulisch-mechanischen Komponenten durch elektrische ersetzt sind. An allen Räder sind am Bremssattel ein Steuergerät und ein elektronisches Stellglied montiert. Über Buskabel werden von einer zentralen Steuereinheit Daten an die Bremssättel gesendet. Gesonderte Sensoren an jedem Bremssattel erfassen Temperatur, Schließkraft und Stellgliedposition. Fallen eine oder mehrere Bremssattel-Steuereinheiten aus, kann die zentrale Steuereinheit die Systemfunktionalität dennoch weiterhin aufrechterhalten. Derzeit beträgt die Reaktionszeit der Systeme 90 ms gegenüber 300 ms bei konventionellen hydraulischen Bremssystemen. Hier ist eine Weiterentwicklung für halbautonome oder autonome Fahrzeuge denkbar. Da die Stellglieder an den Bremssätteln vollelektrisch sind, können die Kolben bei Nichtgebrauch formschlüssig eingefahren werden, sodass das Fahrzeug weniger Schleifwiderstand ausgesetzt ist, sich der Kraftstoffverbrauch verbessert und die Abgasemissionen – ganz wichtig – den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Eins der im Bereich der vollelektrischen Bremssysteme führenden Unternehmen ist Brembo, siehe die nachstehende Abbildung.
Das dritte System ist eine Mischung aus elektrohydraulischem und vollelektrischem System. Es verfügt über elektrohydraulische Komponenten an der Vorderachse und vollelektrische Komponenten an der Hinterachse. Dieses kombinierte System kommt an Fahrzeugen zum Einsatz, deren Vorderradbremsen größer dimensioniert sind, da in diesem Fall die vollelektrischen Komponenten nicht direkt an den vorderen Bremssätteln montiert werden können.
Herkömmliche hydraulische Systeme haben ihre Schwächen, aber den Fahrern gibt das Wissen Sicherheit, dass sie im Fall eines Ausfalls im Bremssystem mit dem Pedal direkt auf alle vier Bremsen einwirken können, um das Fahrzeug zu verlangsamen oder komplett zum Stehen zu bringen. Das ist der Pferdefuß der Brake-by-Wire-Systeme, weshalb die Technologie seit 15 Jahren in der Entwicklung ist. Brake-by-Wire-Systeme sind zwar fortschrittlich, eine separate Batterieversorgung über die Hauptfahrzeugbatterie kann jedoch auch bei vollelektrischen Systemen aus Gründen der Ausfallsicherheit erforderlich sein.
Potenziell bietet die Brake-by-Wire-Technologie dank der Möglichkeit, Stabilitätsprogramme und weiterentwickelte ABS-Technik zu integrieren, mehr Sicherheit als herkömmliche hydraulische Bremssysteme. Aufgrund der vielschichtigen Problematik bei der Ausfallsicherheit geht jedoch eventuell noch etwas Zeit ins Land, bis diese Systeme die Normen der internationalen Verkehrssicherheitsvorschriften „Road Vehicle – Functional Safety“ erfüllen.